Vom Altersruhesitz meiner Katze

Prolog 

Von hier oben kann ich die ganze Welt sehen. Wie auf einer Modelleisenbahnplatte mit kleinen Zügen und Autos, die im Dunklen nur aus Ketten in Weiss und Rot bestehen. Und aus Blaulicht, das jede Nacht dort unten immer wieder kreist. 
Morgens fällt leuchtend rotes Sonnenlicht aufs Tal und die vorher grauweißen Wände der Häuser strahlen warm und lebendig zu mir herauf. Am Abend strahlen sie dann noch einmal, wenn die Sonne als riesengroßer orange-roter Feuerball auf der anderen Seite der Ebene hinter den Bergen bei den, nein, das war anders,...hinter den Pfälzer Bergen untergeht. 

Dann ist meist Frieden hier oben. Mit Amseln, die jeden Tag- und Nachtwechsel begleiten und einer Schar Meisen, die wild tschilpend auf den Ästen sitzen und morgens schon ab der Dämmerung auf die wärmende Sonne warten. Ab und an ein Specht. Eine Krähe. Ein einsamer Mäusebussard, der heiser schreiend in langsamen Runden ins Tal hinunter gleitet. 

Von unten das Dröhnen der Welt, das nur Sonntagmorgens etwas leiser ist, aber nie verstummt. Und Kaffee um Kaffee dreht sich diese Welt weiter, während Bleistift um Bleistift kürzer wird und Blätter mit unnützen Worten vom Tisch herabfallen.
Was ich sagen will, ist noch nicht da. 

Ich switche durch die Kanäle, streife über Liveticker zum Krieg, zu den Skandalen, über den Wahnsinn der Welt und ekle mich.
What a wonderful world. Während eine sanfte, kühle Brise durch die jungen Blätter der Bäume geht und den süßen Duft eines Frühlings mit sich bringt. Ich weiß, bald wird er voll und rund werden. Nach einer prallen Blüte wird der Sommer sich über alles legen, das gerade erst, nach monatelangem Winterschlaf zart knospend erwacht ist. Unwiderruflich wird sie sich weiterdrehen, werden Blätter voller Worte im Herbst nutzlos weiterwehen. 
Und erst ganz am Ende, und hoffentlich nur an meinem eigenen und nicht unser aller, hoffe ich, stirbt dann auch dieses Dröhnen dieser Welt.
Aber noch ist es soweit nicht.

Es geht los


Die ganze Woche hatte ich mit diesem diesigen Blick das Tal unter mir. Am Montag hatte mehrfach das Telefon geklingelt. Festnetz natürlich. Denn für ein Handy würde meine Lieblingsausrede, ich sei unterwegs, noch immer nicht gelten.
Ich ließ es klingeln. Drei, vier Mal hintereinander mit dieser piepsigen Melodie. Wahrscheinlich klingelten weltweit Millionen Telefone mit derselben Standardmelodie, weil die Leute so wie ich selbst, zu faul waren, sich mit Anleitung und guter Laune bewaffnet durch eine Vielzahl von Menüoptionen auf dem viel zu kleinen Display des Hörers durch zu klicken. Vielleicht aber auch nicht.
Ich jedenfalls hörte dem gewohnten Klingeln zu und wartete, dass es wieder verstummte. In der Regel nach einer halben Minute bzw. nach einem viereinhalbmaligen Durchlauf derselben Melodie, jedenfalls wenn der Anrufer nicht bereits vorher aufgab. Ich wusste, nach einer halben Minute sprang der Anrufbeantworter an.
Noch so eine Standardsache, genau wie der Text der blechernen Frauenstimme danach. "Der Anrufer ist leider nicht erreichbar," sagte sie emotionslos und kurz darauf erfolgte der Piep. 
An dieser Stelle hielt ich gewöhnlich den Atem an und ging im Kopf all diejenigen durch, bei denen es am wahrscheinlichsten war, dass sie mich gerade jetzt anrufen könnten. Die Liste war in der Regel kurz und meist lag ich richtig. Nur selten wurde ich von Unbekannten überrascht, und stellte mir in solch einem Fall vor, auf welch verschlungenen Wegen meine Nummer in die Hände der Anrufenden gelangt war. Denn ich war ausgesprochen selektiv in der Weitergabe meiner Kontaktdaten.

Am Montag waren es zuerst Mike (richtig geraten, ich wusste, er wollte, dass ich ihm endlich auf seine Anfrage die richtige Antwort gab) und anschließend, gute zwei Stunden später, Danielle. Auch sie zählte zur Who is Who der Frank Blumenschau-Interessierten, denn sie verdiente einen Teil ihres Geldes mit mir.
Beiden hörte ich zu, wie sie mich baten, doch endlich zurückzurufen. Mike klang dabei genervter als Danielle. Ich überlegte, ihn vielleicht nach Sonnenuntergang zurückzurufen. 
In der Regel sprang dann ebenfalls sein Anrufbeantworter an, denn er pflegte in den frühen Abendstunden in einsamen Runden durch den Stadtwald zu joggen. Er bräuchte das Waldbaden, um ausreichend Abstand zwischen Schreibtisch und Partyzone zu bekommen, hatte er mir vor ein paar Monaten erklärt. Damit er den Kopf frei hätte für seine langen und oftmals sehr ausgiebigen Trips quer durch die Mannheimer Nacht. Ich war mit ihm schon öfter unterwegs gewesen und hatte Sachen erlebt, die würde uns niemand glauben. Aber gerade war mir nicht nach Mike und einer seiner Touren. Außerdem wollte er eh etwas anderes von mir. 

Danielle dagegen brauchte mein Go für eine Lesung in ein paar Wochen. Sie hatte Glück gehabt und gleich zuschlagen wollen. Irgendein Kulturhaus irgendwo in der Pfalz. Und jetzt ließ ich sie schon fast eine Woche mit meiner Antwort hängen. Aber ich wusste auch, wie hartnäckig sie war. Wahrscheinlich konnte ich mich diese Woche auf eine zunehmende Taktrate ihrer Anrufe einstellen. Jedes Mal begleitet mit einem immer gernevteren Ton nach dem Piep.
Aber auch wenn ich das wusste, konnte ich meine Prokrastination des Alltags nicht unterbrechen. Es kam gar nicht in mein Bewusstsein, dass ich mich heute, hier und jetzt auf einen Abend in drei oder vier Wochen festlegen könnte.
Und so schrieb ich nach einem kurzem Innehalten und einem tiefen Atemzug nach dem letzten piependen Signal des Anrufbeantworters weiter. Das war das Einzige, das gerade ging. Schreiben.

Die Woche hatte sich nach diesem Montag nicht mehr weiterentwickelt. Immerhin hatte der Plan mit dem Zurückrufen von Mike und seinem Anrufbeantworter funktioniert. Mikes nächster Versuch bei mir, ließ aber auf sich warten.

Ein Tag um den anderen floss dahin, gleichförmig, so wie das Wetter. Etwas neblig und ganz nett, aber ohne wirkliche Höhepunkte.
Ich kam jetzt immerhin mit meinem Roman vorwärts. Langsam, und nur so halb zufrieden, aber ich fühlte, dass es schon irgenwie eine Art Lauf werden könnte. 
Ich verbat mir in solchen Phasen zu viel Nachrichtenkonsum, zu viel Ablenkung und hatte panische Angst davor, dass ich eines morgens oder mittags oder abends plötzlich nicht mehr schreiben könne, ganz einfach, weil mir keine Worte mehr einfallen würden. Ich hatte deshalb in den letzten Jahren ein gut ausgeklügeltes System an Bedingungen und Abhängigkeiten entwickelt, sobald der Flow einsetzte. Manche würden auch sagen, ich wäre zwanghaft geworden. Ich für meinen Teil konnte damit leben, und meine Katze genoss die Zeiten, in denen ich mich quasi daheim einschloss und vor allzu viel Welt versteckte. In diesen Phasen wurde ich für meine Katze zu so etwas wie ihrem persönlichen Ruhekissen im wahrsten Sinne des Wortes. 
Wir konnten beide Stunden an einer Stelle verbringen. Mit wahrscheinlich dem Unterschied, dass ich meist hellwach war und mein Gehirn überaus aktiv arbeitete. 
Aber vielleicht tat das Gehirn meiner Katze ja genau dasselbe, wenn sie stundelang leise schnarchend auf meinem Schoß schlief.

Einzig im Frühjahr, wenn es die ersten Male wirklich sonnig und warm wurde, erlaubte sie sich Urlaub von mir. Dann verschwand sie üblicherweise für ganze Wochen. Schaute nur selten vorbei, und war selbst dabei ruhelos. Manchmal konnte ich sie von der Terrasse aus unten zwischen den Weinreben umherstreifen oder beim Trinken aus dem kleinen Brunnen im Garten unter uns sehen. Oft war sie aber auch einfach nur weg, und manchmal vergaß ich sie regelrecht und wunderte mich im ersten Moment, wenn sie im Frühsommer dann plötzlich vor mir stand.
Wenn es nämlich richtig heiß und trocken wurde, kam sie wieder nach Hause, noch rechtzeitig bevor der Sommer schwer und die Früchte reif wurden. Die beste Zeit, um sich auszuruhen und von den Strapazen eines aufregenden Frühjahrs zu erholen. Und, so mutmaßte ich, von den Abenteuern zu träumen, die sie erlebt hatte. 
Ich bildete mir jedenfalls ein, dass sie dann auf meinem Schoß  deutlich unruhiger war und im Schlaf weit häufiger zuckte als am Ende des Winters. 
Aber sie wurde mit jedem Jahr älter und in der Geschichte, an der ich gerade saß, kam sie nicht mehr vor. Ich wusste auch nicht, ob sie in diesem Frühling, der vor der Tür stand, und mit seinen Nebelbänken nicht gerade einladend lockte, noch einmal aufbrechen würde.

Worum es geht


Ich hatte vor einigen Monaten mit einem neuen Roman angefangen. Jedenfalls in meinem Kopf. 
Das Thema wog schwer und ich zog den Inhalt aus einem alten, mittlerweile fast achtzig Jahre altem Werk. Ich kopierte es natürlich nicht, aber es war damals als Versepos geschrieben, ins Deutsche übersetzt und als Oper aufgeführt worden. Schon damals wie heute überaus aktuell im Thema, aber nicht gerade eingängig. Und wohl auch deshalb einer der vergessenen Diamanten der neueren Literatur. Ein kleiner Schatz, wenn man sich darauf einlösen, der einen mitnahm, ganz bis zum Ende. Von allem.

In dieser Woche, es muss am Mittwoch oder Donnerstag gewesen sein, hörte ich von weit weg die wohlbekannte Melodie des Telefons. Ich war gerade tief in Gedanken und Formulierungen und erst langsam eroberten sich die piepsenden Töne meine Wahrnehmung.  
Sofort setzte in mir das Gefühl einer ungewollten Störung ein. Ich wurde regelrecht wütend auf diese Melodie, die mir den nächsten Satz auf dem Blatt Papier verwehrt hatte. Der Anrufer, dachte ich und biss mir dabei auf die Lippen, hatte einen ziemlich guten Gedanken auf dem Gewissen, während die Melodie weiter und weiter spielte. Viereinhalb Mal, dann das erlösende Geräusch des Anrufbeantworters. Ich sollte vielleicht den Stecker des Telefons rausziehen, während ich schrieb oder es gleich ganz wegräumen, liefen meine Gedanken weiter, als der Piep erklang und eine mir unbekannte Stimme zu sprechen begann.

Nachdem ein nochmaliger Piep das Ende der Nachricht und damit das Abschalten des Anrufbeantworters ankündigte, saß ich wie vom Donner gerührt regungslos auf meinem Stuhl. Die Worte wiederholten sich in meinem Kopf und vermischten sich dabei mit einer in mir aufsteigenden Panik. Meine Katze spürte sie auch und sprang katzbuckelnd und irritiert von meinem Schoß.

Wir alle werden sterben. Wir alle sterben. Wir sterben. Wir.

Morgens und abends


Jeden Morgen, wenn ich mit meinem Kaffee auf der Terrasse stehe, und über die unter mir liegende Ebene blicke, die gewohnten Häuserzeilen, Straßen und Fabrikhallen blicke, kommt mir der Gedanke, alles war schon immer hier und wird es auch nach mir sein. Aber natürlich ist das eine Täuschung. Nur weil die Zeiträume von Veränderungen lang sind, heißt das nicht, es gäbe diese Veränderung nicht. Es ist ein wenig wie beim Sonnenuntergang. Den Verlauf der Sonne tagsüber kann man am Stück kaum wahrnehmen, aber die letzten fünf Minuten, wenn die glühend rote Sonne hinter den Bergen versinkt, lässt einen die tatsächliche Drehung der Erde erkennen.
Und bei Veränderungen ist es ebenso. Den Anfang und das Ende kann man bewusst Wahrnehmen, dazwischen aber kann man sich meist gut einreden, alles steht und ist stabil. 
Obwohl wir natürlich schon seit Jahrzehnten wissen, dass es passiert. Dass irgendwann demnächst das Öl leer sein wird, dass das Klima sich ändert und obwohl wir das alles wissen, befinden wir uns noch irgendwo am späten Nachmittag, noch hoffnungsvoll gefühlt lange vor dem Abend mit dem unwiderruflichen Sonnenuntergang.
Wenn ich morgens mit meinem Kaffee und meiner Zigarette auf der Terrasse stehe und in die Ebene hinab- und zu den Bergen auf der anderen Seite hinübersehe, kann ich mir einbilden, wir hätten noch mehr viel, viel mehr Zeit. Aber mein Verstand weiss, dass das nicht stimmt.

Von hier oben kann ich mir auch einbilden, ich wäre außen vor. Das Dröhnen würde vorbeiziehen und am Ende ganz einfach verklingen. Ich kann mir denken, und das beruhigt mich, dass sich dieser Mikrokosmos um mich herum retten lässt. Die Terrasse, auf der im Winter hälftig eine Schneedecke liegt und die Rabatte davor mit ihrem Sammelsurium an bunten Farben und Dornen und diesem süßen Duft nach Leben. Und alles um mich herum bis zu den Bäumen unter mir, in deren Kronen ich schaue und genau weiß, wo die kleinen Nester der Elstern sind. 
Aber all das wird sich trotzdem verändern, ganz einfach, weil nichts dem entkommen wird. Ich möchte es festhalten und weiß doch, dass auch meine Tage, vor allem meine Tage gezählt sind.
Ist es also tatsächlich die Angst vor dem Tod? Oder vielleicht doch eher das Bedauern, dass das was, ich als wunderbar erlebe, so nicht mehr existieren wird. Etwas anderes wird kommen, so wie es immer kam. Und doch bleibt in mir eine Trauer, die ich nicht greifen kann. 

Beim Schreiben


Noch während die Drossel singt, beginne ich meist mit dem zweiten Kaffee zu schreiben. Erst sind es meist Kringel, die ich auf das Blatt kritzele, dann forme ich Buchstaben und kurze Worte. Spielerei. Während ich in Gedanken die letzten Sätze vom Vortag noch einmal lese und verbessere. 

Dann bin ich drin und fülle das Blatt langsam von oben bis unten. Nummeriere es am Ende und lege es zu den vielen anderen auf den Stapel, der von einem flachen Stein beschwert, neben mir auf dem Schreibtisch liegt. Auf dem Stein ist ein handtellergroßer Ammonit, der seit 200 Millionen Jahren im Ölschiefer gepresst wurde, bis ich ihn vor einigen Jahren aus der Schwäbischen Alb klopfte. Er erinnert mich an diese für uns Menschen und alle Lebewesen unglaublichen Ewigkeit, die er schon in diesem Stein gefangen ist. Manchmal streiche ich vorsichtig mit den Fingerspitzen über die kaum fassbaren Konturen und stelle mir dabei vor, wie die Welt damals, als er noch gelebt hat, ausgesehen haben muss. 

Alles grün.


Was hat uns bloß so ruiniert? Warum konnten wir nicht warten? Warum musste es immer besser, schneller, höher und weiter gehen? War es das, was Jesus uns mit seinem "Sehet die Vögel. Sie pflanzen nicht und sie ernten nicht. Und verhungern dennoch nicht." sagen wollte? Aber der Mensch ist nicht so. Wir horten Ressourcen, legen Vorräte an und denken an die Zukunft, und wie wir es uns mit ein wenig Entwicklung einfacherer, sicherer und besser machen können. Die letzten zweihundert Jahre des 19. Jahrhunderts hat uns Kohle, Dampf und dann das Öl immer schneller werden lassen. Wie in einem Karrussell, das sich immer schneller um sich selbst dreht, jagte eine Entwicklung die andere. Und obwohl wir wussten, was wir taten, hörten wir nicht auf. Manche gaben der Aufklärung die Schuld, die dem erfürchtigen Emporblicken zu Gott durchsetzt den Zweifel an die Seite stellte. Bis der die Oberhand gewann und alle Dämme der Zurückhaltung starben. Aber in anderen Teilen der Erde entwickelte es sich im gleichen Maße und schon lange vor der Jahrtausendwende wussten wir, dass es nicht mehr lange so gutgehen könnte. Aber. Wir feierten weiter.

Woanders


Wenn man sich ganz, ganz tief hinab beugt und rückwärts zwischen seinen Beinen durchschaut, sieht die Welt, die hinter einem liegt, ganz anders aus. Nicht nur die Perspektive wirkt, sondern das gesamte Setting. Diese Dimension ist neu. Es ist keine Erinnerung in diesem Blick, den man dann plötzlich hat. Mit nur einem neuen, eigentlich ganz simplen Wechsel des Blicks. 
Ich habe das öfter einmal bei Sonnenuntergängen probiert. Und es war jedes Mal besonders. Intensiv.

Und am Ende verschwimmt alles in einem blassen Rosa, und Federwolken die anfangen, noch einmal zu glühen, bevor sie blau und grau zu einem später kaum noch wahrnehmbaren Schatten an einem dann dunklen Himmel werden. Richtig schwarz wird es hier nie.
Die Lichter der Stadt unten im Tal und die flackernden Lichter weiter hinten im Tal brennen die gesamte Nacht. Und in einem unheimlichen Grau strahlen die Wolken hinten über der Metropole, die niemals schläft und zu der dieses große,axhtige Wolken ausstoßende Großkraftwerk gehört. 
In manchen Nächten glühen die roten Lichter auf den Schornsteinen durch das gesamte Tal und düster ragen die Türme aus dem Bodennebel heraus, der sich an frischen Herbstmorgen langsam ziehend oberhalb des Flusses bewegt. 

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