Aniara

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Am Ende flohen die Menschen von der Erde. Sie hatten erfolgreich neue Lager auf dem Mars aufgeschlagen, um der verseuchten und verstrahlten Heimat zu entkommen. Und in den letzten Jahren hatten in immer größerem Ausmaße Notausflüge zugenommen, denn große Teile der Erde wurden in immer kürzerer Zeit unbewohnbar. Krebs beherrschte die Bevölkerungsteile, die sich kein Leben in einem der All inclusive Luxus-Bunker leisten konnten. Und das waren natürlich fast alle, denn so wie die Zerstörung der Umwelt in den letzten Jahrhunderten immer massiver wurde, verstärkte sich die Ungleichheit der Menschen in demselben Maße, wie der noch mögliche Lebensraum abnahm. 
Die die es sich leisten konnten, waren deshalb schon vor Jahrzehnten von der Erde geflohen, als die ersten Kolonien auf dem Mars entstanden. Sie lebten dort mittlerweile eingewöhnt als sogenannte erste Generation der Überlebenden. Das Leben aber war ganz anders dort. Und die, die schon auf der Erde und vor ihrer Abreise ausschließlich in ihren Bunkern gelebt hatten, gewöhnten sich schnell an die künstliche und sterile Umgebung der Kolonien. Es gab kein Draußen auf dem Mars, denn draußen war es sogar noch tödlicher als vorher auf der alten verlebten Erde. Aber man konnte über- und die Menschheit damit weiterleben.

Am Ende fanden dann regelrechte Evakuierungen ganzer Landstriche statt. Afrika war als erster Kontinent unbewohnbar geworden. Menschenströme ergossen sich in die nördlichen und südlichen Breiten, während gottlob die Erschließung neuer Siedlungen auf dem Mars und die Entwicklung größer und größer werdender Raumschiffe mit der Fluchtbewegung Schritt hielt. Das Ausreisen wurde zur Routine und von großen Flughäfen hoben im Tagetakt riesige Goldonder ab. Gigantische Schiffe, die Tausende von Menschen fassten, um sie in die neue, ganz andere Welt zu bringen, die neben aller Künstlichkeit für die Menschheit aber ein Weiterleben bedeutete. Und neben den Menschen trugen sie auch Tonnen unverseuchter Erde und anderer Ressourcen mit sich, die es von der Erde zu retten gab.

Durch große und weite Hallen schieben sich heute täglich in langen Schlangen Menschenmassen, ergießen sich in die Warteräume nach den Kontrollpunkten, an denen Hunderte Beamte stoisch Pass und Ticket kontrollieren, und nach Durchsicht und Abstempeln die Menschen weiterschicken. Von einem zum anderen bis am Ende das letzte Tor, der verheißende Ausgang in Sicht- und dann nach einer gefühlten Ewigkeit des Wartens in Reichweite kommt. Die Menschen in den Schlangen streben ihm entgegen. Nur die Beamten bleiben, Tag um Tag und Jahr um Jahr, und nehmen die an ihnen vorbeiziehenden Männer und Frauen und Kinder gar nicht mehr wahr, als das, was in ihren Pässen steht. Und selbst das vergessen sie sofort, wenn auf dem kleinen Bildschirm das grüne Licht anspringt, mit dem der Scanner anzeigt, dass mit den Papieren vor ihnen alles in Ordnung ist. In Erinnerung bleiben nur die, die sich bei einem roten Licht wehren, dass Sicherheitsleute sie aus der Schlange heraus zu einem anderen Tor bringen. Den Beamten selbst ist es nach hunderttausenden Menschen egal, durch welches Tor diese verschwinden. Und auch den Menschen hinter ihnen in der Schlange ist es egal, in Gedanken bei der jetzt schon so greifbar nahen Hoffnung, ganz bald und endlich auf dem ihnen zugedachten Platz in einem der verheißungsvollen Goldonder zu sitzen. Nur von Zeit zu Zeit geht ein Ruck durch die Menge, wenn hunderte von Sirenen das Signal eines Starts geben und Kinder anfangen an zu schreien. 

2

Die Sirenen heulen in den mächtigen Hallen, aber noch lauter und intensiver sind sie auf dem gigantischen Flugfeld selbst. Von überall her scheint es dann zu heulen, hunderte rote Warnlichter glühen zusammen rhythmisch auf und lassen jeden deutlich wissen, das gleich etwas ganz Großes beginnt.
Die Türen des Goldonders mit der Aufschrift "Aniara" sind längst geschlossen. Die Fahrzeuge ziehen sich zurück und minutenlang bleibt das Flugfeld leer und wird nur von dem Lärm der Sirenen geflutet.
Dann beginnt es: Mit einem Dröhnen startet der Goldonder seine Turbinen. Ein Beben geht über das Flugfeld und langsam, ganz langsam hebt der Goldonder Zentimeter um Zentimeter vom Boden ab. Er ist groß wie ein Haus mit einer glatten, im Licht des Hangars silbern-rot glänzenden Außenhaut. 
Höher und höher schiebt sich das Schiff dem Himmel entgegen, hoch über den Hangar und die Wartehallen hinaus bis zu den Magnetrinen zur Lage Null.
Hunderte, tausende Augen verfolgen aus den hohen Fenstern der Wartehallen den Aufstieg , bis der Goldonder einer verpuppten Raupe gleich, am Himmel hängt. Von hier unten wirkt es, als würde "Aniara" schwerelos schweben.
Und mit einem Mal verstummen die Sirenen und die roten Lichter bleiben schwarz. Es erfolgt die Feldablösung, ein gyromatischer Vorgang, der mittlerweile tausendfach auf der Erde stattgefunden hat. 
Für die Menschen in den Wartehallen findet dort oben der Beginn eines unglaublichen Abenteuers statt, aber für die Techniker ist das alles zur Routine geworden. Und während "Aniara" mit hellem Licht nun seine Triebwerke zündet, die es dann schnell aus der Atmosphäre heben, ahnt niemand, dass gerade diese Raumfahrt eine ganz besondere sein wird, die uns nicht nur von Doris schönem Tal wegführen, sondern auch von Erde, Sonne, Mars und Venus trennen sollte.

3

Auch wenn die Fahrten zum Mars dieser Tage Routine geworden sind, gibt es immer doch unvorhergesehene Situationen und dem Goldonder Aniara wiederfährt genau das: Er muss Hondo ausweichen, einem Asteroiden, der die Piloten überrascht hat und sie zwingt, den eingeschlagenen Kurs zum Mars zu verlassen. Um in der Folge der Anziehungskraft des Jupiters zu entgehen, schlagen sie die Kurve ICE-zwölf auf der Außenbahn des Magdalenenfelds ein und stoßen dort auf zu viele Leoniden. Ein Ausweichen später schwenken sie Richtung Yko-sieben bis ins Feld Sari-sechzehn. 
Und noch während sie das Schiff stoppen und drehen, taucht im Echographen aus dem Torusbild ein Ring aus Felsen näher, dem sie noch versuchen zu entgehen. Leider vergeblich und die Meteoriten und Raumkies treffen das riesige Schiff, und dabei unter anderem das Saba-Aggregat dermaßen stark, dass es von da an versagt. 

Als sie durch den Ring hindurch sind, führt ihre Bahn in Richtung Leier. Aniara ist navigationsunfähig. Aber während es nun zu einem toten Punkt in Raum unterwegs ist, bleiben Schwerkraftwerk, Heizung und Beleuchtung ohne Schaden von den Felsen. Andere Apparate sind beschädigt und nur wenig betroffene werden später repariert. Die Menschen auf dem Goldonder können also weiterleben, ankommen werden sie aber nirgendwo. Ihnen bleibt nur die Hoffnung auf die Mima, die ohne Beschädigung geblieben ist. 

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Umgeben von der Sonne und allen Planeten und allen anderen Sternen weiter entfernt, die den Goldonder wie ein kristallenes strahlendes Netz umfassen, funkte das Schiff das Rufwort Aniara.
Aber der Raum bleib stumm. Und obwohl sicher der Funkspruch in die Weiten des Alls hinausgeht, kommt nirgendwo her eine Antwort auf den Ruf der Aniara.

5

Die Pilotenschaft bleibt in ihren Sesseln, überwacht alle Funktionen an Bord und beobachtet unbeirrt ihren Kurs. Natürlich ist ihnen der Kurs bewusst, und dass es kein Ziel am Ende dieser Reise gibt. Nur den Tod, der sie, so wie alle anderen an Bord auch, irgendwann einmal holen wird. Erst jetzt nach sechs langen Jahren und nur in unbeobachteten Momenten scheint ihr Blick auch für einen Moment schreckensvoll. 
Eine der Pilotinnen etwa sucht nun häufiger die Mama auf. Und blickt in sie mit einem rätselhaften, undeutbaren Glanz in den schönen Augen, in denen sich Trauerfeuer sammeln, die hungrig das Seelenlicht aus der Mima verbrennen und dabei doch die Hoffnung hegt, das es niemals verlischt. 

Vor einigen Jahren sagte diese Pilotin, dass sie persönlich es nicht ungern sähe, wenn sie alle nach einem letzten Abschiedsmahl einfach verschwänden. Aber die gesamte Pilotenschaft weiß auch, dass ihre Pflicht für die Passagiere für die gesamte Reise gilt. In ihren Fall also für die Ewigkeit.

6

Durch die Mima können wir Leben sehen, doch wissen nicht, woher die Bilder kommen. Sie überträgt uns Zeichen, Bilder, Landschaften und gar Redefetzen hören wir, doch bleibt unklar, wer sie wo spricht.
Und unsere treue Mima durchsucht den Raum mit ihrem Elektronennetz, Elektrolinsen geben Grundrapporte an die Wählerzellen. Fokuswerke sammeln aus der indifferenten dritten Vebe die Taxis. Und aus allem entstehen am Ende Bilde, Worte, sogar Düfte. Doch kann die Mima aufgrund ihrer Art nicht sagen, in welchem Tal und Wald sie ihre Beute fängt, in welchem Meer sie ihre Fische fischt.
Ich tröstet mit ihr Hunderte Migranten, mit Bildern, wie sie noch niemand sah und doch stellt niemand unsere Mima infrage, für deren Rechenleistung wir Tausende und mehr von uns gebraucht hätten.
Sie umringen die Mima, sitzen vor ihr, wünschen dabei wohl, sie wären wie sie. 
Die unbestechlich einfach sendet, nicht wählt, sondern einfach zeigt, was sie an Bildern, Sprache, Duft erfasst und dabei nicht merkt, dass um sie herum — Jüngern gleich — die Menschen sitzen, als ob sie beten. Berühren sie und flüsteren ihr zu, erbitten Ratschlag von der edlen Mima für diese Reise in ihrem sechsten Jahr.
Ich verstehe jetzt, was sich ändert: Wie diese Emigranten lernen zu verstehen, dass das was war, vergangen ist. Und diese einzige Welt für uns die Welt aus der Mima ist. Während wir durch den leeren Raum in unseren sicheren Tod reisen, versteht sie es, uns zu beruhigen und auf jene letzte Stunde vorzubereiten, die uns allen einmal schlägt, ganz egal, wer oder wo man ist.

7

Auch nach diesen ganzen Jahren halten wir den Rhythmus von Tag und Nacht aus Erdzeiten ein. Wir lassen die Sonne auf- und abends wieder unter gehen, wenngleich auch im Raum um uns ein sternenklares und kaltes Dunkel herrscht, wie es nie auf der Erde gesehen wart. Aber das Herz hat sich mit der Uhr geeinigt und so bleibt es dabei, bis zu dieser einen Mittsommernacht, in der alle sich im größten Saale versammeln. Alle außer jenen natürlich, die im Ausguck still Wache halten. 
Die ganze Nacht hindurch wird ausgelassen gescherzt und getanzt, denn es ist Johannisnacht, und das hält an bis zum Sonnenaufgang.
Dann wird uns allen klar und bewusst, dass keine Sonne hier aufgehen wird. Und dass schon das Leben auf Erden nur ein Traum war, noch vielmehr aber hier in Mimas Sälen ist. Die Unendlichkeit zieht dunkel ein und Schluchzen erhebt sich und Weinen beginnt, während die Musik plötzlich verstummt. Und alle Seelen ziehen aus dem Tanzsaal heraus zur Mima hin. Ihre Bilder können die Bedrückung auf Stunden hin lösen und das Heimweh lindern, das auf uns lastet. Denn jene Bilder, die wir sehen, sind sogar schöner als das, was wir von der Erde erinnern. Wäre das nicht so, könnte die Mina uns nicht so fesseln wie sie es bei jedem von uns tut.

8

Wir blendeen die Wahrheit aus und reihen Traum an Traum an das, was wir von der Mima sehen. Bis es uns wie die eigene Heimat wird, die jetzt so weit von uns entfernt mit gleicher Sehnsucht sich verbindet. Und dieses Etwas wird unser Streben, wird zu einem Lebenshort.
Wir erkennen nur selten, in welchem Wunderwerk von Schiff wir leben. Nur wenn einer eine Totenrede hält, blitzt der Gedanke auf und zieht unbegreiflich stumm über uns dahin. Dann eilen wir zur Mima, und suchen dort in ihren Bilderwelten Trost.

Achttausend Seelen, die sich um die Mima drängen, auf einem Schiff mit sechzehn tausend Fuß Länge und dreitausend Fuß Breite. Nur eins von Tausend und gebaut für die Massenausfuhr zum Mars, von dessen Kurs wir lange schon ab sind, und doch noch hoffen, ihn wieder zu finden. Bis eines Tages der erste Astrolobe bekennt, dass das interne Feld nun hinter uns liegt und man nun alles dafür tun wird, dass diese Pionierfahrt ins externe Feld erfolgreich verläuft.
Als sie erkennen, dass es kein Zurück in den sicheren Fahrplan des internen Raums gibt und die Gesetze des externen Feldes ganz andere sind, kommt erst die Panik, dann die Verzweiflung und anschließend folgt die Apathie. Die nur die Bilder aus der Mima lösen kann.

9

Die Mima ist ein Wunderwerk. Ihr Erfinder hatte bald fassungslos erkannt, dass ein Teil der Mima von ihm nicht mehr analysierbar war. Ganze Bereiche wie im Fokuswerk der dritten Vebe Gang oder die Bewegungsauskunft im Protator behielt sie für sich, ihr Wesen nahm richtig gehend Züge an und arbeitete ganz anders als wir uns erklären konnten.
Ihr Erfinder nannte sich später aus Ehrfurcht vor dieser entstehenden Gestalt um und hieß von da an Mimator. 
Und als der Mimator dann starb, wurde die Mima sich ihrer bewusst. Sie schöpfte ihre Möglichkeiten vollends aus und erkannte dabei auch ihre Grenzen. Sie ist ein Telegrator, der unermüdlich suchend den Raum abtastend und unbestechlich bildhaft werden läßt, was er dort findet.
Ich — als Hauptmonteur der Mima hier an Bord — sehe ergriffen all den Menschen zu, die zu ihren Füßen zu ihr hoffen und beten, dass die Bilder, die uns die Mima schenkt, wahr sind und dass dieser Trost nur ein Schimmer sei von dem Licht des wahren Trostes hier in der Unendlichkeit.

10

Denn diese Leere schreckt uns. Alles wirkt glasartig klar und steril. Die Sternbilder hinter den Fenstern ziehen unscheinbar langsam. Wir brauchen unsere Traumwelten und Erinnerungen an die alte Erde und jedes Schluchzen und jede Träne sind dafür ein Quelle. Unser Schiff wird zu einem Reh, das lautlos zwischen den Gestirnen zur Leier jagt. Nur so versteht unser Gehirn Raum und Zeit, denn draußen vor dem Fenster wirkt alles, als sei es erstarrt. Wie eingefroren in Berg der Ewigkeit, wie Diamantenstaub in einem Bergkristall. Und all unsere Worte, die jemals etwas gegeben wurden — für Gebirge, Gewässer und Doris schönem Tal — wurden nötiger denn je. In dieser Unendlichkeit, in der wir jetzt waren, brauchten wir Worte, die kleiner machten. Und unsere Worte veränderten sich: Gar nicht mehr verwenden konnten wir den Begriff Gestirn. Kein Tabu dagegen mehr waren Brüste und Schoß. Unangenehm wurde uns das Wort Gehirn.

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In den Versammlungssälen unseres Achterschiffs spricht ein Mann der Leitung zu den Leuten. Er bittet sie, nicht zu verzweifeln und unsere Reise aus wissenschaftlichem Blickwinkel zu sehen. 
So etwas wie uns passiert ja nicht zum ersten Mal. Bereits vor sechzig Jahren ging ein Großgoldonder wir unserer verloren. Mit vierzehntausend Seelen verschwand er nach einem Instrumentenzusammenbruch kurz vor dem Orion und verschwand in Jupiters schwerer Hülle aus vereistem Wasserstoff.
Das hätte auch mit uns geschehen können. Aber war es nicht, wir wären besser dran. Denn weder sind wir ja  auf einen Satelliten gestürzt noch drohen wir auf einem Stern einzuschlagen. Stattdessen wären wir auf eine Reise auf Lebenszeit. Bis zu einem Ende, das kommt, wie es auch so gekommen wäre.

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Ganz regelmäßig treffen wir uns in den Tanzsälen zum Yurg. Mit mir ist ein wunderschönes Mädchen aus Dorisburg und ihr kennt sie, die tanzt hier mit uns zusammen schon seit Jahren. Für sie gibt es keinen Unterschied zwischen dem Yurg hier und dem, den wir damals tanzten in Dorisburg. Sie spricht sogar noch im Dorisburger Slang.

Was gammast Du noch zu, in Yail und Dori.
Mach's dich wie ich, mich siehst Du nimmer lori.

Und während wir uns beim Tanzen umeinander drehen, uns spüren und fassen, da ist es fast, als schafft dies Mädchen aus Dorisburg, meinen Kummer und diese Todesewigkeit mit ihrem Dorisburger Slang zu besiegen.

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Sechs Jahre zog Aniara mit uns nun schon zum Sternbild Leier hin. Der erste Astronom spricht zu den Emigranten über die Tiefe des Raums. In seiner Hand hält er ein Glas hinauf, sodass alle es sehen.

"Der Weltraum ist von ganz anderer Art als wir ihn uns einst auf der Erde vorstellten. Unsere Fahrt führte uns viel tiefer, und wer einst dachte, das Rätsel des Raums hätte eine Form, ahnt heute, dass da ringsherum um unser Schiff nichts ist, außer einem ewigen Geist, durch den wir irren.
Aniara zieht dahin in einem Geist ganz ohne Körper, das zwar existiert, aber nicht gedacht zu werden kann. Durch Gott und Tod und Rätsel zieht Aniara ohne Ziel und ohne Spur. Wir wären so unendlich gern wieder zurück in Doris schönem Tal und sehen doch, unsere Aniara ist nur ein Bläschen in diesem Glas von Gottes Geist.
In jedem Glas wie diesem gilt, dass auch wenn es völlig unberührt und unverändert ist, sich eine Blase unendlich langsam indurch bewegt und nach eintausend Jahren wieder am Anfang steht.
Genauso ist es im ewigen Raum: Obwohl Aniara sich bewegt, schnell und ungebremst, ist sie das Bläschen und legt man nun das Raummaß an, ist ihre Geschwindigkeit wie die der Blase hier in Glas."

Mir wird kalt im Herzen vor so viel Klarheit. Ich fliehe vom Vortrag hinweg zur Mima und weiter zum Yurg in Tanzssaal. Bettle dort das Dorisburger Mädchen an, dass sie mit mir tanzt, sich an mich schmiegt und mich in ihren Schoß lässt. Denn das ist Rettung: dort in ihren Schoß zu gelangen, wo es keine Klarheit gibt, kein Grauen und keine Gefahren, sondern nur warme, kurze Lust. 

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Unter den Emigranten entsteht eine neue Sekte. Die Kitzler nennen sie sich und genau der steht auch im Mittelpunkt ihres Tuns. Sie üben sich in seinem Umgang und wen wundert es, dass die Mehrheit der Kitzler Frauen sind. Die Männer in der Gruppe nennt man gemeinhin Kesselflicker. 
Was das Wort bedeutet, weiß niemand so genau. Es stammt noch aus einer vorgoldondscher Zeit und wollte, könnte es nachlesen in den Archiven, die wir mit uns führen. Es hat irgendetwas zu tun mit Nahrung, wie man sie damals aß und wie man sie mit einem Feuer zubereitete. Mehr weiß ich darüber nicht. Aber ich erinnere daran, dass einstmals in meiner Schule solch ein Feuer aus einem Stückchen Holz erzeugt wurde. Während wir das in den Händen hielten, kam Rauch aus ihm und etwas Wärme. Nachdem wir alle es gehalten hatten, tauchte man das Stückchen unter Wasser und das kleine Feuer und die Glut erlosch.
Holz war schon damals ein seltener Stoff. Es gab ihn häufiger in vorgoldondscher Zeit, doch mit den ersten Strahlenkatastrophen verschwand er.
Ich erinnere mich noch an das Gefühl in dem Moment, als wir alle gerührt umeinander das Hölzchen leuchten sahen. Lang ist es her, so undenkbar lange.

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Ich schließe den Raum zur Mima ab und streife durch das Schiff. Ich höre die Besatzung und die Passagiere reden, bis ich vor einem alten Raummatrosen stehen bleibe, der gerade von seiner großen Liebe spricht. 

"Nobby war sicherlich keine Schönheit mit ihrer blassen, von der Strahlung ausgeblichenen Haut. Dreimal schon war sie kurz vor ihrem Ende gewesen, dreimal gab man ihr Gammasol und Tebe-Strahlen in den Sanitätsbaracken von Tundra 2. Und behielt sie dort, bis sie soweit wieder genesen war. Dann fuhr sie heim vom Mars zur Erde mit dem billigsten Goldonder und tat, was sie dort schon früher tat: Sie half den Flüchtlingen und sammelte Kollekten für Bedürftige auf dem Mars und der Venus. Die einen brauchten Schutz vor der Tundrakälte, die anderen vor dem Klima der Moore. Sie rieb sich dann auf bei all der Hilfe.

Ich lernte sie kennen auf Tundra 2. Zu der Zeit war ich erst Volontär auf dem damals 15. Goldonder und verliebte mich in sie. Wir träumten und wünschten so viel mehr in diesen letztendlich nur so wenigen Nächten. 
Max, der altgediente Goldonder wurde in dieser Zeit umgebaut. Hatte er früher Erde und Venus verbunden, so wurde jetzt aus ihm ein klassischer Hilfs- und Fluchttransporter für den Weg zum Mars.
Zu dieser Zeit hatte der Krieg 32 gerade geendet und der Kontrollplan 3 wurde vollständig ausgeführt. Ihr kennt ja alle die Geschichte: Ein neuer Bonze oben, der seine Geschenke verteilte und die, die bereits am Ende waren, transportierte der Arrestgoldonder 6 nach Tundra 9. In der vielleicht schlimmsten Tundra sollten sie dort Torf stechen. Ich selbst war einmal da. 
Es war die Zeit der Lochkarten und deren Bestimmung tauschte damals oft den Sinn: Ging es eigentlich um Flucht und Schutz und Menschensgüte, kamen sie nach Tundra 9. 
Wir begannen damals der erste Mal die Mima zu bewundern, die ganz exakt das Nummernchaos ordnete, das wir verdrängen wollten. 

16

Unablässig drehen sich die Türen, durch die sich Menschen vorwärts schieben. Über allem dröhnt ein Summen aus Verzweigung, Glaube, Mut. Und irgendwoher kommt ein Singen. Als würde das helfen gegen die Leere, die uns umgibt. Als Mantra wiederholt und wachsend, wie eine Klagemauer laut, bis dann die Bilder unserer Mima uns trösten können. 
Herrliche Bilder, wie einer Hoffnung Ufer, für ein paar Stunden laben sie uns. 
Bis dann die Bilder sich erschüttern und im Dunklen sanft verlieren. Die Mima braucht eine Pause und wir sind wieder nackt und schwach und frieren.

17

Es ist wie ein Tauchen, aber ohne Tiefe. Es ist wie ein Tauchen, bei dem uns nichts bleibt. Wir sehen uns zu, wie wir alle tauchen durch diese Wunderbilderwelt. Und kommen zurück hier vor die Mima.

Manche von uns aber tauchen nur selten durch diesen farbenfrohen Rausch. Stattdessen wagen sie ab und an den Blick hinaus und sehen: eine Wolke, die fest und regungslos uns scheint. Wie ein Bühnenbild fast, auf dem mit leuchtenden Farben ein Hintergrund uns scheint, wenn wir nicht wüßten, wie schnell Aniara mit uns durch diesen Kosmos jagt.

Einmal musste auch ich hinaus und sah, wie mächtig Aniara war. Hinter ihr schon weit entfernt das Doristal und vor ihr noch weit entfernt die Leier — ein Sansibar des Raums und der Zeit. Und ich begriff, wie schwer uns beides schier auf unserer Reise zerdrückt.

18

So richten wir uns ein in unserer Gedankenflucht und gleiten von Traum zu Traum. Halb in dieser Wirklichkeit, halb in unserer echten. Wir wissen nicht mehr, warum wir hier gefangen waren und vergessen darüber, wohin einst unsere Reise ging. 



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